17. Oktober 2012

Gefühlte Niederlage

Sechzig Minuten lang zeigte die deutsche Fußballnationalmannschaft während des WM-Qualifikationspiels am gestrigen Abend Fußball vom Feinsten. Was aber die folgenden 33 Minuten passierte, sollte in die Fußballgeschichte eingehen. Nach einer sicheren 4:0-Führung und einem scheinbaren Erfolg vor Augen, fing sich das Team von Trainer Joachim Löw noch vier - teilweise groteske - Gegentreffer. Am Ende steht ein Unentschieden, was sich vielmehr wie eine Niederlage anfühlt. 
Im Vergleich zum 1:6-Erfolg in Dublin gegen Irland veränderte der Bundestrainer die Startaufstellung auf zwei Positionen. Für den angeschlagenen Sami Khedira rückte Toni Kroos in die Startelf. Etwas überraschend fehlte in der ersten Elf der zuvor viel gescholtene Marcel Schmelzer. Offiziell wegen einer Knochenstauchung. Für ihn rückte der zuvor Gelb-gesperrte Philipp Lahm ins Team - allerdings auf die linke Seite. Die rechte Flanke beackerte Jérôme Boateng. Kaum war die Partie angepfiffen, wurde dem Zuseher klar, wer im Berliner Olympiastadion die Hosen an hatte. Sofort zeigte das deutsche Team eine engagierte Leistung, was sich in der 8. Minute erstmals bemerkbar machte, als Miroslav Klose zum 1:0 einschob. Es war sein 66. Treffer im 126. Spiel. Kaum sieben Minuten später drückte der Stürmer von Lazio Rom erneut den Ball über die Linie. Nach Zuspiel von Marco Reus erzielte Klose seinen zweiten Treffer am Abend. Dem 34-Jährigen fehlt somit nur noch ein Tor bis zur Einstellung von Gerd Müllers Nationalmannschaftsrekord von 68 Toren. Nach diesem Treffer schaltete die Nationalelf einen Gang zurück. Der Passivität der Schweden ist es zuzuschreiben, dass die deutsche Defensive bis dato ungefordert blieb. Nach 39 Minuten netzte Per Mertesacker aus kurzer Distanz zur 3:0-Pausenführung ein. 
Während Jogi Löw in der Kabine das DFB-Team mit Pausentee - es hatte kurz zuvor zu nieseln begonnen - versorgte, brannte es in der schwedischen Kabine. Weltstar, Medienliebling, Neu-Pariser und Stürmer, Zlatan Ibrahimovic, soll, so berichten einige Medienvertreter, in der Halbzeit eine flammende Rede gegenüber seinen Mitspielern gehalten haben. 
Kurz nach Beginn der zweiten Hälfte war davon (noch) nichts zu sehen. Die deutschen nahmen die Partie an sich und erhöhten durch den bis dahin unauffälligen Mesut Özil zum 4:0. Durch das Berliner Rund schallte es spätestens jetzt "Oh, wie ist das schön". Die Laola schwappte sieben bis zehn Mal ohne Pause - und sogar nicht unterbrochen durch die VIP-Loge! - durch die Reihen. Ein jeder sah ein Schützenfest kommen und erwartete weitere Treffer. Doch, ähnlich wie beim Aufbau eines IKEA-Billy-Regals, kam es anders. Die Ansage des erwähnten Wunderstürmers fruchtete. Schweden rappelte sich auf. "Ibrakadabra" ließ nach Worten auch Taten folgen und netzte zum 1:4-Anschluss ein.  Kaum zwei Minuten später erzielte Lustig das zweite Tor für die Schweden. Lustig war daran jedoch nichts: Holger Badstuber, eigentlich für seine Konzentriertheit stets gerühmt, war mit seinen Gedanken ganz wo anders und lieferte mit einer grandiosen Unkonzentriertheit die Vorlage für diesen Treffer. Das 4:2 ließ nun alle Dämme brechen. Die Schweden rannten permanent auf das Gehäuse von Manuel Neuer an. Die deutsche Defensive konnte ihre zuvor tadellose Ordnung nicht mehr herstellen. Eine Viertelstunde vor Schluss sorgte Johan Elmander für das 4:3. Sein Schuss durch die Hosenträger von Badstuber schlug unhaltbar für Neuer ins lange Eck ein. Kurz bevor Joachim Löw die Schotten dicht machen und mit Heiko Westermann einen weiteren Defensivspieler zur Verwaltung des Spiels bringen wollte, geschah das Unfassbare: Nach einem foulträchtigen Einsteigen von Ibrahimovic gelang Rasmus Elm das 4:4 in der 93. Minute. 
Eigentlich stehen nach solch einer Leistung bei den deutschen nur Verlierer auf dem Platz. Wäre da nicht die ersten 60 Minuten des Spiels gewesen. Hier ragte besonders der Bajuware an alter Berliner Wirkungsstätte, Jérôme Boateng, hervor, der mit unermüdlichen Tempoläufen und guten Flanken auf der rechten Defensivseite Werbung in eigener Sache machte. Ebenso stark: Miroslav Klose. Nicht nur wegen seiner Treffer 66 und 67, sondern auch aufgrund seines enormen Laufpensums. Nicht selten war es Klose, der weit in der eigenen Hälfte einen der seltenen Angriffe der Schweden in der ersten Halbzeit unterband. Einen mieserablen Tag erwischte Holger Badstuber. Der Verteidiger der Münchner Bayern stand nach einer starken ersten Stunde komplett neben sich. Auch schon bessere Tage erlebte Manuel Neuer, der sich nach dem 4:0 wohl schon im Feierabend wähnte.
Nach der Partie waren es die Fans, die ihrem Ärger (verbal) freie Bahn ließen. Als Philipp Lahm als einziger deutscher Spieler nebst der schwedischen Jubeltraube den Weg in die Kurve zum Applaudieren antrat, wurde er unverhohlen weggebrüllt (O-Ton: "Was willst du hier?! Hau ab in die Kabine, du Idiot!"). Tristesse in Deutschland, Feierstimmung in Schweden. Glaubt man der Zeitung Dagens Nyheter, war Deutschland mittels dieses legendären Unentschiedens direkt am "größte[n] Kracher der schwedischen Sportgeschichte" beteiligt. Der einzige Trost. Immerhin.

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[Bild: Tobias Ilg]

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